„Hörst du auf, die Taube zu jagen?!“ Mein kleiner Sohn rennt in seinem giftgrünen Powerranger-Kostüm mit gezücktem Schwert hinter dem aufgeregt hüfenden grauen Vogel hinterher. „Echte Superhelden lassen die in Ruhe!“
„Aber Mama, ich bin kein Superheld, das ist doch nur eine Verkleidung!“, und unbeirrt springt er der Taube weiter hinterher, die zwar etwas echauffiert flattert, sich aber von dem wildgewordenen Frosch auch nicht vertreiben lassen möchte.
Ich seufze, Erziehung ist manchmal echt schwer.
Und manche haben es echt schwerer als andere. Tauben zum Beispiel. Bis vor kurzem umwehte sie für Romantiker und Pazifisten wenigstens noch der Hauch der Hoffnung. Doch seit dem Krieg bekommt selbst ihre Friedenssymbolik Shitstorms ab. Jetzt ist sie nur noch eine keimige Luftratte, ungeliebt und selbst von Kleinkindern gejagt. Ein echtes Opfer, gemobbt auf ganzer Linie.
Früher, als alle noch bibelfester waren als heutzutage, hatte die Taube hingegen ein hervorragendes Image. Schließlich war es eine Taube, die Noah nach der Sintflut und monatelangem Dümpeln in seiner Arche einen Olivenzweig und damit die Nachricht von bewohnbarem Land brachte. Somit herrscht wieder Eintracht zwischen Gott und der Menschheit, die ihn zuvor durch ihr sündhaftes Verhalten erbost hatte.
Doch ist die Taube als Friedenssymbol keine biblische Erfindung, das Konzept ist noch viel älter. Es wird angenommen, dass die Noah-Episode von der sumerischen Göttin Inanna inspiriert wurde. Jene erschien den Menschen als „erhabenen Taube“ und stand für Frieden und Fruchtbarkeit. Diese ursprüngliche Bedeutung wurde aber von der patriarchischen, alttestamentarischen Weltsicht so stark gefiltert, dass man der Taube die „Befriedigung durch Vögeln“ absprach und nur der biedere „Weltfrieden“ übrigblieb.
Leider brachte diese Adelung zum Friedenssymbol nicht immer Vorteile. Als 1988 die Olympischen Spiele in Seoul eröffnet wurden, ließ man auch 1.200 Tauben frei. Sie setzten sich in ihrer Unschuldigkeit auf die riesige, noch kalte Schale für das olympische Feuer, es wurde entzündet – und Puff wurden die Friedenssymbole bei lebendigem Leib gegrillt. Freiheit kann durchaus tragisch enden. Um diesem „Trugschluss“ entgegenzuwirken, lässt man seitdem keine Vögel mehr fliegen.
Diese Tragödie, sich selbst auf den Grill gesetzt zu haben, kann man allerdings nicht darauf zurückführen, dass diese Vögel einfach nur dumm waren. Japanische Wissenschaftler fanden heraus, dass Tauben nach einer Trainingsphase Werke von Monet und Picasso dem jeweiligen Künstler korrekt zuordnen konnten. Da kenne ich so manchen Menschen, der dazu nicht fähig ist … Sie können sogar Rechtschreibung: Bei einem Experiment konnten sie sich dutzende vierbuchstabige Wörter merken und falsch geschriebene aussortieren. Da kenne ich so manchen Menschen, der schon an kürzeren Wörtern scheitert. Tauben sind zudem auch noch besser im Multitasking als wir und können Personen selbst auf stark verpixelten Bildern besser wiedererkennen.
Und wenn sie sich einmal gefunden haben, dann ist sich ein Taubenpärchen lebenslang treu. Da kenne ich so manchen, … – aber lassen wir das.
Tauben haben Wissenschaftler schon immer inspiriert. Leonardo da Vinci studierte ihren Flug, um die Bewegungen in einen menschentaulichen Mechanismus umzusetzen, der Verhaltensbiologe B. F. Skinner bestückte seine Skinnerbox mit ihnen, um das Prinzip der Konditionierung zu erforschen und der Nobelpreisträger und Mathematiker John Forbes Nash stellte aufgrund ihres Verhaltens Formeln zur Spieltheorie auf. Und indirekt trugen sie mit ihren nicht vorhandenen Taubenschissen auch zur Entdeckung des Urknall-Restleuchtens bei.
Natürlich sind Stadttauben öfter mal krank, das aber nur, weil sie wegen fehlender Alternativen das fressen, was auch uns nicht bekommt: Döner, Pommes, Burger-Brötchen.
Zudem sind Tauben bei weitem nicht so unhygienisch wie angenommen: Nach einem Artikel des Rundfunks Berlin-Brandenburg sei es zwar möglich, dass Tauben humanpatologe Keime enthalten. Doch in über zehn Jahren wurde kein einziger Fall von durch Tauben auf Menschen übertragene Krankheiten gemeldet.
Trotzdem sind die Taubenschwärme in Großstädten ein Problem. Viele Tauben bedeuten auch viele Taubenschisse, in Berlin sind das 27 Tonnen Trockenkot im Jahr. DAS ist mal echter Shitstorm! Um sie von öffentlichen Gebäuden und großen Menschenumschlagplätzen wie S-Bahnhöfen wegzulocken, sind seit einigen Jahren sogenannte „betreute Taubenschläge“ in Betrieb. Diese bieten den Vögeln Nahrung, Wasser und Brutplätze. All inclusiv sozusagen. Hier hat man die Chance, mithilfe ausgeklügelter Methoden wie Antikükenpillen oder Gipseiern die Vermehrung der Tauben einzuschränken.
Oder man setzt an ausgewählten Orten abgerichtete Falken ein, die sich nicht nur gerne einen gefiederten Snack holen, sondern durch ihre Anwesenheit auch den Rest des Schwarmes vertreiben.
Dass Tauben in Städten so zahlreich auftreten, ist aber letztendlich unsere Schuld. Die Vögel lebten nämlich ursprünglich gar nicht in unseren Breitengraden. Die Stadttaube stammt von der Felsentaube aus dem Mittelmeerraum ab. Erst als sie als Haus- und Brieftaube importiert wurde, entwickelte sich aus ihr zwangsläufig die Stadttaube. Denn Tiere, die den Weg nach Hause nicht mehr fanden, ließen sich dort nieder, wo die Nahrungsversorgung einigermaßen stimmte. Stadttauben sind also verwilderte Haustiere, Obdachlose ohne Fürsprecher, im wahrsten Sinne vogelfrei. Sie können eigentlich 15 Jahre alt werden, in Berlin schaffen sie aber meistens nur zwei.
Von einer Plage kann man jedenfalls nicht sprechen. In Berlin leben derzeit nur zwischen 10.000 und 15.000 Exemplare. Zum Vergleich: Die Zahl der Ratten wird auf eine Million geschätzt, die Zahl der Menschen auf 3,7 Millionen. Wenn man also rein nach den Zahlen geht, um eine Plage zu beurteilen, schneiden wir dabei sehr viel schlechter ab.
„Jetzt hab ich sie!“, schreit mein kleiner Sohn und macht einen Ausfallschritt nach vorn.
Die Taube flattert auf, hebt sich in die Lüfte und es fällt eine kleine weiße Pfütze vom Himmel auf das schöne, giftgrüne Powerranger-Kostüm.
Wer zuletzt kackt, lacht am besten, denke ich. Macht aber nichts, das Zeug ist ja entgegen der allgemeinen Annahme nicht ätzend. „Na komm, du Held, wir gehen jetzt erstmal Taubenfüttern. Zur Wiedergutmachung, nicht, dass dir das morgen noch mal passiert. Die haben schließlich ein gutes Gedächtnis, die Vögel. In Berlin darf man das sogar ganz offiziell und es macht Spaß.“
„Aber die hat mich vollgekackert!“ Mein Sohn ist sichtlich entsetzt.
„Ja, darauf bin ich schon ein bisschen neidisch“ – und dann erzähle ich ihm das Märchen, das man allen Beschissenen dieser Welt erzählt: „Das bringt nämlich Glück!“